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Warum sind österreichische Energiegemeinschaften denen in Deutschland um viele Jahre voraus?

Michael Merz, PONTON

Wer denkt, dass Deutschland führend ist bei der Energiewende, sollte den Blick über den Tellerrand wagen – oder besser über die Voralpen. Österreich zeigt uns, wie man ganz organisch und ohne viel Lärm die Energiewende vorantreibt und dabei den Nachbarn im Norden tatsächlich viele Jahre voraus ist. Darüber möchte ich an dieser Stelle berichten, basierend auf einem Workshop, den wir kürzlich mit Netzbetreibern in Wien durchgeführt haben.

Es geht hierbei zentral um Energiegemeinschaften, die sich hervorragend als Indikator für den „Energiewendefortschritt“ verwenden lassen. Denn die Verbreitung von Energiegemeinschaften steht für

  • regulatorischen Willen,
  • Standardisierung,
  • Smart-Meter-Rollout,
  • ökonomischen Anreiz und
  • innovativen Spirit.

Dort wo Energiegemeinschaften florieren, müssen zuvor all diese Grundlagen in harmonisierter Form geschaffen worden sein. Zum Smart-Meter-Rollout: In Österreich gab es über die letzten zehn Jahre keine zentrale spezifizierte Sicherheitsanforderung, die den deutschen Anforderungen an ein Smart Meter Gateway entspricht – es sind Smart Meter installiert, nicht immer in exakt gleicher Form, dafür aber mit hoher Durchdringung in allen Verteilnetzgebieten. Im Ergebnis führte dies zu einer Durchdringung von 50% im Jahr 2023. Ein Wert von 90% wird sogar bereits 2024 bei jedem zweiten Mitgliedsstaat überschritten.

Quelle: https://www.ffe.de/veroeffentlichungen/smart-meter-rollout-in-deutschland-und-europa/

In Deutschland waren Smart Meter 2021 lediglich im Promillebereich ausgerollt (160.000) und man plant in 2025 20% aller verpflichteten Verbraucher (> 6.000 kWh Verbrauch im Jahr) auszustatten. Dieser Wert soll bis 2030 95% erreichen. Wohlbemerkt, dies betrifft kaum einen Privathaushalt, da diese größtenteils unter 6.000 kWh / Jahr liegen. Erst mit der verpflichtenden Einführung dynamischer Stromtarife ab 2025 werden Messtellenbetreiber auch für Verbraucher unter 6.000 kWh / Jahr Smart Meter installieren.

Zum regulatorischen Willen: Auf dem Nachbarplaneten Deutschlands namens „EU“ war mit dem Clean Energy Package bereits Ende 2019 die Grundlage geschaffen für eine Vielzahl von Elementen, die die Energiewende befördern: Neben vielen weiteren Richtlinien wurde beispielsweise festgelegt, dass ein EU-Mitgliedsland seinen Bürgern die Bildung von Energiegemeinschaften ab Sommer 2021 ermöglichen muss. Hierbei sind Privathaushalte und Unternehmen darin zu unterstützen, Energie zu teilen, gemeinsam erneuerbare Erzeugungsanlagen zu errichten („energy sharing“) und dies ohne Einbindung den bisher vorherrschenden Lieferanten. Da zu diesem Zweck diverse Marktrollen auf private Verbrauchsdaten zugreifen müssen, kombinieren andere EU-Staaten das Clean Energy Package mit der DSGVO (bzw. international: GDPR), um die Einwilligung des Kunden für die Weitergabe und Verarbeitung dieser Daten in standardisierter Weise durchzuführen (Customer Consent Management).

Gestartet hat das Teilen von Energie in einem Mehrfamilienhaus in Österreich bereits im Jahr 2019 in Form von „Gemeinschaftlichen Erzeugungsanlagen“. Zwei Jahre später wurde dann das österreichische ElWOG für lokale und regionale Erneuerbare Energiegemeinschaften (kurz: EEG) so angepasst, dass das Netzentgelt für diese um bis zu 57% reduziert wird. Auch sind die Teilnehmer einer EEG von der Abführung weiterer Abgaben (Erneuerbare Förderbeiträge und Elektrizitätsabgabe) ausgenommen. Dies ist ein Nährboden, der Energiegemeinschaften wachsen lässt. Und schließlich hat das ElWOG 2021 auch Verfahrensweisen für die Zuteilung von Stromlieferungen innerhalb von Energiegemeinschaften geregelt (Stichwort: dynamische vs. statische Abrechnung). Zudem wurde im ElWOG die Abwicklung für netzgebietsübergreifende Bürgerenergiegemeinschaften (kurz: BEG) als auch die gleichzeitige Teilnahme an mehr als einer Energiegemeinschaft geregelt.

Und in Deutschland? Nichts dergleichen! Keine der regulatorischen Fristen wurden auf dem Planet Deutschland eingehalten und es gab bisher auch keine effektive Gesetzgebung in Richtung Energiegemeinschaften. Ach ja, fast hätte ich den Mieterstrom vergessen! Wenn hier aber der Vermieter zum Lieferanten werden muss, dann verliert er schnell den Appetit, denn den nicht von ihm erbringbaren Reststrom muss er bei einem Drittanbieter beschaffen. Nur bei einigen tausend Mietshäusern hat der Eigentümer sich bisher entschieden, eine Mieterstromgemeinschaft zu bilden. Und richtig, mit etwas Glück wird dieses Jahr das „Solarpaket 1“ in Deutschland verabschiedet. Dies sieht eine dynamische bzw. statisch Abrechnung von Stromlieferungen vor (kommt bekannt vor, oder?). Hoffen wir also, dass potenzielle Energiegemeinschaften nicht durch unwillige Netzbetreiber oder Lieferanten zu Tode verzögert werden. Schaut man hingegen nach Spanien, Frankreich, Großbritannien oder in die Niederlande, findet man eine ähnliche Aufbruchstimmung wie in Österreich.

Zum ökonomischen Anreiz: Wie wir wissen, ist Deutschland ist ein hochpreisiger Standort für Energie. Die Kilowattstunde kostet für die meisten Privathaushalte immer noch rund 40 Cent, obwohl der Großhandelsanteil einer Kilowattstunde am Spotmarkt heute allerdings wieder auf ca. 10 Cent heruntergegangen ist. Netzentgelte schlagen bei Privathaushalten mit sehr hohen 12,06 Cent zu Buche, also ca. 30% der Stromkosten, der Rest verteilt sich auf Stromvertrieb, Steuern und Abgaben. In Österreich ist die relative Verteilung ähnlich, jedoch kostet die Kilowattstunde nur 20-30 Cent, die Netzentgelte liegen bei 7,5 Cent. Der Energiepreis liegt bei ca. 8-15 Cent und Steuern und Abgaben bei etwa 7 Cent.

Wenn nun ein PV-Anlagenbesitzer seinen Nachbarn Strom verkaufen will, dann fallen bei einer lokalen Energiegemeinschaft nur ca. 3 Cent Netznutzungsentgelt sowie einige Cent für den Koordinator der Energiegemeinschaft an aufgrund der Reduzierung der Netzentgelte um 57%. Ein PV-Anlagenbesitzer, der beispielsweise überschüssigen Strom für 20 Cent verkauft, kann somit 12-15 Cent für sich beanspruchen (incl. MwSt). Dies wiederum ist sehr viel attraktiver als die heute sehr niedrigen Einspeisetarife. Und auch seine Verbraucher innerhalb der Energiegemeinschaft sind nicht schlechter gestellt. Jede Energiegemeinschaft kann zudem individuell entscheiden, zu welchen Preisen der Strom verrechnet wird.

Bühne frei für die österreichischen Energiegemeinschaften!

Unter den oben genannten Voraussetzungen ist das österreichische Biotop äußert nahrhaft und setzt innovative Energien frei: Monatlich registrieren sich hunderte von Energiegemeinschaften bei der von den Netzbetreibern bereitgestellten Plattform ebUtilities und schließen danach unkompliziert einen Vertrag zum standardisierten Datenaustausch mit der dafür zuständigen EDA GmbH. Von den vielen registrierten Energiegemeinschaften sind bereits einige tausend live, von denen wiederum einige über hunderte von Mitgliedern verfügen – und dies nur zwei Jahre nach dem regulatorischen Startschuss im Jahr 2021. Für die kommenden Jahre rechnet man mit hunderttausenden Teilnehmern, die auf der Erzeuger- oder auf der Konsumentenseite Energie teilen.

In Österreich ist das Thema „Energiegemeinschaften“ bereits so etabliert, dass heute Aufgaben höherer Art zu lösen sind:

  • Mehrfachteilnahme (siehe Diskussion hierzu): An wie vielen Energiegemeinschaften soll ein Mitglied gleichzeitig teilnehmen können? In Österreich ist es ab April 2024 möglich, sowohl mit Erzeugungs- als auch mit Verbrauchszählpunkten gleichzeitig an 5 Energiegemeinschaften unterschiedlicher Art teilzunehmen. Man stelle sich vor, welch kleinteiligen Energiemengen zu messen und abzurechnen sind, wenn ein Haushalt, der am Tag 10 Kilowatt verbraucht, einen Teil von 20 Produzenten aus 5 Energiegemeinschaften erhält und der Rest dann vom althergebrachten Lieferanten bezogen wird. Und dies erfolgt mit viertelstundenscharfer Abrechnung.
  • Zusätzlich ist im ElWG 2024 das Prinzip der P2P-Belieferung vorgesehen: Ein Produzent kann damit einen Konsumenten beliefern. Hierbei ist kein Betreiber als zusätzliche Marktrolle erforderlich, sondern die beiden Teilnehmer melden Ihre Lieferungen selbst dem Netzbetreiber bzw. beiden Netzbetreibern, wenn sich Erzeugung und Verbrauch in unterschiedlichen Netzgebieten befinden.
  • VEZ – Verteilnetzübergreifende Energiezuweisung: Wenn eine Energiegemeinschaft Verteilnetzgebiete überschreitet (sog. Bürgerenergiegemeinschaften), dann entstehen Liefermengen, die für die VNBs nicht erfassbar sind (im Gegensatz zu den Mengen, die von klassischen Lieferanten bezogen werden). Hier ist folglich verteilnetzübergreifende Mengenabrechnung in saldierter Form zwischen den VNBs erforderlich, die einen neuen Datenaustauschprozess darstellen. Zudem müssen die Netzbetreiber die virtuellen Netzübergaben im Clearing ausgleichen.
  • Durch das rasante Wachstum an Energiegemeinschaften entstehen immer wieder neue Dienstleistungen, die zunächst in Österreich erprobt und später in andere europäische Mitgliedsstaaten exportiert werden können. Unternehmen wie Exnaton und Neoom sind bereits dabei, den deutschen Markt ins Visier zu nehmen. Hier geht es um die Betreiberrolle, die Entwicklung von Software für Betreiber und zur Erfassung und Abrechnung von Lastgängen, für den Datenaustausch zwischen Marktrollen und diverse Berater und Informationsportale, die im Zuge des Booms entstehen.
  • Pioniere: Bezeichnend ist, dass inzwischen Schulen und hemdsärmelige Politiker eigene Energiegemeinschaften gründen und selbst Abrechnungssysteme entwickeln und am Datenaustausch mit den Netzbetreibern teilnehmen. Dies kann als Beweis für die pragmatische Ausrichtung der Regulierung gesehen werden.

Österreich hat es geschafft, einen Boom auszulösen, der wiederum weitere Dienstleistungen befeuert. Natürlich kommt es dabei auch zu Stockungen, insbesondere, wenn Anträge und Errichtungen von Anlagen mit knappen Ressourcen abzuarbeiten sind. Und immer wieder muss der Gesetzgeber nachjustieren, um Regeln und Prozesse zu standardisieren – aber letztlich werden hier Erfahrungen gesammelt, die Gold wert sind für den Export.

Und in Deutschland? Hier ist noch keine der Voraussetzungen erfüllt:

  • Wir haben immer noch kein Solarpaket I oder II, das über Mehrfamilienhäuser hinaus die Zusammenarbeit von Energiegemeinschaften regelt.
  • Wir haben kaum Smart Meter installiert und es ist fraglich, ob Messtellenbetreiber mit der nötigen Begeisterung diese dort zügig installieren, wo sie nicht vorgeschrieben sind, sondern freiwillig angefordert werden.
  • Es zeichnet sich auch noch kein kommerzieller Anreiz ab, eine lokale oder regionale Energiegemeinschaft zu gründen. Man diskutiert zwar über zeitvariable Netzentgelte für Flexibilitätsanbieter, aber „Energiegemeinschaften“, „Quartiersstrom“ oder „Energiegenossenschaften“ sind noch gar nicht begrifflich präzisiert, geschweige denn finanziell angereizt.

Insofern stehen wir 2024 in Deutschland dort, wo Österreich vor Jahren stand. Bzw. werden wir mit Glück in vielen Jahren dort stehen, wo sich Österreich heute befindet. Damit sind wir kein „second mover“, sondern ein 27th mover innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten.

Wir von PONTON sind daher besonders stolz darauf, mit der von uns entwickelten EDA-Infrastruktur für den standardisierten Datenaustausch in ganz Österreich einen Teil zum Erfolg beigetragen zu haben – wie bereits angesprochen: Engagierte Schüler schaffen es mit allen Netzbetreibern auf Basis unserer Infrastruktur Daten auszutauschen.

In diesem Licht beobachten wir den Rollout der AS4-Marktkommunikation in Deutschland mit einem lachenden und einem weinenden Auge, den wir haben in Österreich – zusammen mit brillanten Kapazitäten aus der Branche – definitiv besser hinbekommen. Und wir freuen uns auf das Jahr, in dem Energiegemeinschaften auch in Deutschland boomen, vielleicht können wir dann mit ein wenig Technologietransfer aushelfen.